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Edith Dekyndt. Erzähl uns etwas, das niemand weiß

Bis 26. Oktober 2025 ● Bielefeld ● Kunsthalle Bielefeld 

Der Titel der Ausstellung, „Erzähl uns etwas, das niemand weiß“, entstammt dem Buch „Die Ethik des Staubes“ des britischen Universalgelehrten und Kunstkritikers John Ruskin, in dem sich ein Dialog über Naturwissenschaft, Ethik und Schönheit entspinnt. Im Titel klingt die Aufforderung an, Geheimnissen, dem bisher Unausgesprochenen oder nicht Gewussten Raum zu geben.

Was haben ein durch die Kunsthalle schwebender blauer Ball, ein sich auflösender textiler Vorhang, ein knorriger Ast mit schimmernden Erweiterungen und ein Lassowerfer gemeinsam? Die Werke machen sinnlich erfahrbar, was natürliche und gesellschaftliche Prozesse antreibt. Edith Dekyndt begegnet den Ambivalenzen und mächtigen, zuweilen aggressiven Kräften, die unsere natürlichen wie geopolitisch instabilen Zeiten prägen, mit präzisen künstlerischen Setzungen in unterschiedlichsten Medien.

Mit minimalistischer Ästhetik schafft sie poetische Reflexionen über universelle Phänomene und unsere Welt, in der sowohl Natur als auch Kultur, das Urbane und das Ländliche - insbesondere durch unsere Lebens- und Handlungsweise einem tiefgreifenden Wandel unterworfen sind.

Zahlreiche Werke von Dekyndt sind von physikalischen und chemischen Phänomenen geprägt. An Fundstücken aus der Natur, Objekten des Alltags oder Zeugnissen der Kultur lässt die Künstlerin die stillen Kräfte natürlicher Verwandlungsprozesse wirken. Häufig setzt sie dafür Materialien wie Erde, Flüssigkeiten, Staub, Salze oder Textilien ein. Darüber hinaus kombiniert sie Elemente der Natur wie versteinertes, fossiles Holz mit Formen, die durch KI berechnet wurden und im 3D-Druckverfahren eine mögliche Fortsetzung des Wachstums manifestieren. So entstehen hybride Objekte zwischen Natur, Technologie und künstlerischer Fiktion – als Hommage an das, was verloren ging, unvollständig blieb oder erst noch denkbar wird.

Die Ausstellung beginnt mit der performativen Arbeit „Le cru et le cuit“ (Das Rohe und das Gekochte), bezugnehmend auf Claude Lévi-Strauss’ Analyse südamerikanischer Mythen. Eine in sich gekehrte und animalisch gebärdende Person bewegt sich zwischen gläsernen Vitrinen, zerkaut dabei rohe rote Beete, um sie wenig später auf Glasflächen auszuspucken. Tierischer Instinkt und gesellschaftliche Kodifizierung prallen aufeinander. Animalische Kräfte, Fragen nach Abgrenzung, Akzeptanz und Abjektion werden sinnlich erfahrbar.

In den Ausstellungsräumen begleitet die Besucher:innen das widerhallende Geräusch eines peitschenden Lassos. Die in einem Video dokumentierte Performance eines Lassoschwingers, dessen Seil die mit zarter Seide bespannte Wand immer wieder berührt und damit verletzt, ist als großflächige Projektion zum Skulpturenpark nach außen gerichtet. Auch hier prallen die Schönheit harmonischer Kunstfertigkeit und die bedrohlichen, unkontrollierbaren Kräfte aufeinander.

Aktuelle politische Geschehnisse und Entwicklungen, wie der Krieg in der Ukraine, sind im Werk Dekyndts niemals direkt angesprochen. Dennoch werden die Fragilität, die Spannung, die mit jeder Transformation einhergeht, stets deutlich.

Zudem wurde eine Reihe neuer Arbeiten entwickelt, die sich mit der Identität des Hauses, seiner Architektur und Lage auseinandersetzen. Sie greift dabei auf die Sammlung der Kunsthalle und die Architektur des Hauses zurück. Das Wasser, welches aus dem unter dem Museum kanalisierten Flussarm der Lutter stammt, stößt einen Werkprozess an. Wasser als Metapher für Wandel und Vergänglichkeit steht der musealen Idee des Bewahrens gegenüber.

Durch Verschiebungen von Elementen wie Vorhängen oder Teppichen, die dem Grundriss des Hauses folgen, hebt sie das Museum künstlerisch aus den Angeln. Dabei treten ihre Werke, die sich über beide Stockwerke ausbreiten, in einen Dialog mit ausgewählten Arbeiten aus der Sammlung. Hans Schmitz-Wiedenbrücks „Frau mit Reisigbündel“ wurde seit über 80 Jahren nicht mehr gezeigt und fiel der Künstlerin auf, da es tatsächlich Staub angesetzt hatte. Schmitz-Wiedenbrücks Werk war 1938 angekauft worden. Der Künstler war ein regimetreuer Nationalsozialist, dessen Werk eine entsprechende Ästhetik aufweist und das in der Folge nicht mehr gezeigt wurde. Dekyndt stellt das Werk einem auf den Boden strahlenden Lichtkegel gegenüber, der den sich im Raum ansammelnden Staub sichtbar werden lässt. Während der Ausstellungslaufzeit wird dieser sich weiter anhäufen. Zeit, Vergessen und Verdecken materialisieren sich und werden im Kontext gesellschaftspolitischer Entwicklungen zugleich kritisch reflektiert.

Das Werk Dekyndts speist sich aus einer wichtigen Einsicht und Botschaft der Künstlerin: Sowohl Gesellschaften als auch die Natur können nur durch ständige Veränderung und Anpassung überdauern. Die Wahl experimenteller, empfindlicher, teilweise ephemerer Materialien spiegelt Dekyndts anhaltende Faszination für Prozesse und deren Unvorhersehbarkeit wider. Die Künstlerin lädt uns ein, der Veränderlichkeit unvoreingenommen zu begegnen, indem sie der Materialität gewöhnlicher Dinge forschend in Experimenten entgegentritt. Das Werk gibt zunächst Überraschung und Staunen Raum, in und mit Materialitäten verbinden sich gesellschaftliche wie politische Fragen.

kunsthalle-bielefeld.de

 

Bildunterschriften und /-nachweise:

1. Edith Dekyndt "Le cru et le cuit" 2024, Konrad Fischer Galerie, Berlin, Performer: Bully Fae Collins Photo: Courtesy the artist and Konrad Fischer Galerie, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

2. Edith Dekyndt "Visitation Zone" 2020 Photo: Diane Arques, 2022, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025 as featured in Edith Dekyndt’s Aria of Inertia, presented at Kering’s Parisian headquarters during the 2022 European Heritage Days, in collaboration with the Pinault Collection.

3. Edith Dekyndt "One Second of Silence" 2008 Video still © VG Bild-Kunst, Bonn 2025