theater festival

49. Mülheimer Theatertage

Bis 25. Mai 2024 ● Mülheim an der Ruhr ● verschiedene Orte Mülheims

Bei den 49. Mülheimer Theatertagen erleben die Besucher drei Wochen lang herausragende Texte und renommierte Theaterensembles auf der Bühne, können die nominierten Autor:innen kennenlernen und die aktuellsten Entwicklungen der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik mitverfolgen. Das Festival eröffnet am 04. Mai mit dem Stück „Baracke“ von Rainald Goetz.

Baracke

„Alle Gewalt geht von der Familie aus“, lautet die Kernthese in diesem Stück, das sich mit Deutschland beschäftigt. Mit der Kälte und der von Hass geprägten Stimmungslage im Land. Mit Deutschland im Herbst. Dabei will Rainald Goetz hier eigentlich von der Liebe erzählen. Davon, wie sie die Menschen beseelt und durch sie alles möglich scheint. Doch die Liebe zwischen Bea und Ramin, die Anfang der Neunziger im thüringischen Krölpa ein Paar werden, scheitert. Stattdessen tut sich Bea mit dem gewaltbereiten Uwe zusammen. Mit ihm kommt der rechtsextreme NSU-Terror ins Spiel, auf den dieses Stück in wild mäandernden Sprech- und Denkbewegungen zuläuft. Ein entzündliches Texthybrid aus der deutschen Familienhölle, geschrieben im Goetz-Sound fiebriger „Highendverbalität“.

Juices
Wie davon erzählen, vom vermeintlichen Ankommen als Arbeitsmigrant:innen-Kind im bundesdeutschen Wohlstandswesten? Von den Erinnerungen an die dauergestresste Mutter, die von Job zu Job hetzen musste, das Kind während der Putzschichten irgendwo mit einem Malblock geparkt? Von den Deutschen, die durch sie hindurchgesehen haben? Wie davon erzählen, wenn man keinen Leidenskitsch verbreiten, nicht in Klassismusklischees abrutschen, keinen Working-Class-Erinnerungsporn schreiben will? „Juices“ findet einen verschlungenen Weg aus drei Stimmen, die am Ende in einer Wutrede der „BRD“ die Rechnung präsentieren für ihren Hochmut und ihren Selbstbetrug, man hätte alles aus eigener Kraft erreicht. Von wegen!

The Silence
Haben Sie sich je gefragt, warum es in westdeutschen Nachkriegsfamilien so angestrengt normal zuging, warum so schweigsam, so gefühlskalt? Dann kann Ihnen kaum Aufregenderes, kaum Aufrichtigeres begegnen als „The Silence“ von Falk Richter. Der 54-jährige Autor und Regisseur befragt sein Gedächtnis, interviewt seine Mutter, enthüllt eine über Generationen eingeübte Doppelmoral, die ausblendet, was nicht in die Eigenheimidylle passt. Großväter, verroht vom Krieg. Ein Vater, verschlossen wie ein Aktenschrank. Mutter und Großmutter: Überlebensheldinnen mit Neigung zur Lebenslüge. Ein großartiges Zeugnis deutscher Familiengeschichte, veredelt von Solist Dimitrij Schaad.

Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert
Sivan Ben Yishais „Nora“ ist gewitztes Metadrama, klassismuskritischer Klassikerkommentar und kluge Kanonbefragung zugleich. Die emanzipatorische Handlung von Ibsens Original spielt kaum eine Rolle, Ben Yishai interessiert sich mehr für theaterimmanente Unterdrückungsmechanismen und rückt die Nebenfiguren in den Vordergrund. „Nora“ ist bei ihr eine erfolgreiche Show, mit der die Hauptdarstellerin und ihr Mann seit 140 Jahren um die Welt touren. Der Rest des Ensembles wurde längst entlassen – darunter all die Dienstmädchen und Paketboten, die keinen Namen und fast keinen Text haben. Ben Yishai lässt sie den Aufstand proben. Und vergisst nicht zu erwähnen, dass wir auch von der Titelheldin nur den Vornamen kennen.

Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt
Anna ist auf der Flucht, in doppelter Hinsicht. Im Herkunftsland wird sie politisch verfolgt – und am aktuellen Aufenthaltsort von ihrem gewalttätigen Ehemann gestalkt. „Wenn der mich findet“, sagt sie, „macht der mich tot“. Anna ist eine von sechs Protagonistinnen, die in Felicia Zellers Stück Zuflucht in einem Frauenhaus gefunden haben. Auf der Grundlage von Interviews zeigt die Dramatikerin nicht nur in hochkomplexer Weise weibliche Gewalterfahrungen quer durch alle Altersgruppen, sozialen Schichten und Milieus auf. Sondern ebenso präzise legt sie mit der ihr eigenen Syntax verbale Machtstrategien, Ohnmachtserfahrungen, Sozialisationsmuster sowie Immunisierungsstrategien der Ämter offen.

Entdecken Sie weitere Stücke des Festivals unter folgender Webseite:

muelheim-ruhr.de


Bildunterschriften und /-nachweise:

1. 49. Mülheimer Theatertage, "Baracke" von Rainald Goetz © Foto: Thomas Aurin

2. 49. Mülheimer Theatertage, "Juice" von Ewe Benbenek © Foto: Maximilian Borschardt

3. 49. Mülheimer Theatertage, "The Silence" von Falk Richter © Foto: Gianmarco Bresadola

4. 49. Mülheimer Theatertage, "Nora" von Sivan Ben Yishai © Foto: Kerstin Schomburg

5. 49. Mülheimer Theatertage, "Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt" von Felicia Zeller © Foto: Axel J. Scherer